Familienbande
Ich fand das Buch in den Wäldern, versteckt unter einer Sperrholzplatte, der Einband abgerissen und die Seiten feucht und angeschimmelt.
Brock und Bonnie Rivers standen in ihrer Einfahrt und winkten Pfarrer Hassleback zum Abschied ein Lebewohl hinterher.
«Lebewohl», sagten sie und winkten.
«Lebewohl», erwiderte der Pfarrer. «Sagt euren beiden halbwüchsigen Kindern, Josh und Sandi, dass sie erstklassige Novizen sind. Sie sind brave Kinder», fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu. «Fast so gut und geil wie ihre Eltern!»
Die Rivers lächelten beifällig und hoben abermals die Hände zu einem Winken. Als das Auto des Pfarrers schließlich die Einfahrt verließ, blieben sie noch einen Augenblick lang im hellen Sonnenschein stehen, bevor sie in den Keller stiegen, um die Kinder loszubinden.
Das Thema des Buches war, dass die Menschen nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen. In ihrer gehobenen Mittelstandsgemeinde hochgeachtet, praktizierte die Familie Rivers eine wörtliche Interpretation des Satzes «Liebe Deinen Nächsten». Gelenkig wie die Bodenturner, waren diese Leute ebenso schamlos wie unersättlich. Da trieb es Vater mit Tochter, Bruder mit Schwester, Mutter mit Sohn: Nachdem jede mögliche Kombination erschöpft war, erweiterten sie den Kreis um geile Kapitäne zur See und vagierende Scherenschleifer. Sie trieben es in Höhlen mit ihrem Dobermann und auf dem Dachfirst mit dem Bautrupp, der die Schindeln erneuern sollte. Die ersten beide Male, die ich das Buch las, war die Lektüre so schön, dass es weh tat. Ja, diese Leute waren schlimm, aber mit dreizehn Jahren konnte ich ihre ansteckende Energie und beherzte Lebenslust nur bewundern. Beim dritten Mal war ich schockiert, nicht vom Benehmen der Romanfiguren, sondern von den unzähligen Satzfehlern. Hatte es denn niemand für nötig gehalten, dieses Buch mal Korrektur zu lesen, bevor es in Druck ging? Im Eingangskapitel dieses Buches erleben wir die Tochter mit dem Pummel ihres Bruders in der Mischi, wobei sie «Bims mich, so dull du kannst» ruft. Als der Sohn auf Seite dreiunddreißig Sex mit seiner Mutter hat, hinterlässt er bei der Frau «Totten, die von Sparma glänzten».
Ich zeigte das Buch meiner Schwester Lisa, die es mir mit den Worten «Lass mich das erst mal behalten» aus den Händen riss. Wir tauschten oft Jobs als Babysitter und betrachteten uns im Bereich der literarischen Pornographie als recht belesen.
«Sieh im Elternschlafzimmer unter den Pullovern in der zweiten Schublade in der weißen Kommode nach», sagte sie. Wir hatten beide Die Geschichte der O und die gesammelten Schriften des Marquis de Sade mit einem Auge auf der Haustür gelesen, immer in der Furcht, die Hausherren könnten reinkommen und uns mit gestachelten Peitschen und heißen Ölen foltern. «Ich kenne euch», sagte unser Blick, wenn die Eltern ihre schlafenden Kinder überprüften. «Ich weiß alles über euch.»
Das Buch ging von Lisa an unsere elfjährige Schwester Gretchen, die es als aufrüttelndes Enthüllungs-Sachbuch über die amerikanische Mittelschicht interpretierte. «Ich bin ziemlich sicher, dass genau dies genau hier in North Hills an der Tagesordnung ist», flüsterte sie und steckte das Buch unter das Kunstgras ihres Osterkörbchens. «Seht euch zum Beispiel die Familie Sherman an. Erst letzte Woche habe ich gesehen, wie Heidi Steve junior in die Hose gelangt hat.»
«Der Typ hat sich beide Arme gebrochen», sagte ich. «Sie hat ihm wahrscheinlich nur das Hemd in die Hose gestopft.»
«Würdest du dir von einer von uns das Hemd in die Hose stopfen lassen?», fragte sie.
Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Eine sorgfältige Studie legte den Verdacht nahe, dass die Shermans nicht das waren, was sie zu sein vorgaben. Der Vater wurde oft dabei beobachtet, wie er sich am Sack kratzte, und seine Frau hatte die störende Angewohnheit, einem direkt in die Augen zu sehen und dabei an ihren Fingern zu schnüffeln. Ein Schleier war gelüftet worden, besonders für Gretchen, die jetzt die Welt als Grube sah, aus der die ungezügelte Sexualität dampfte. Sie saß auf einem Klubsessel im Country Club, verengte die Augen zu Schlitzen und stellte Mutmaßungen über die Kinder an, die das seichte Ende des Pools bevölkerten. «Mich beschleicht der Verdacht, Christina Youngblood könnte unsere Halbschwester sein. Das Kinn hat sie von ihrem Vater, aber Augen und Mund sind reinste Mom.»
Ich mochte unsere Eltern nicht in so was verwickeln, aber Gretchen bot eine beängstigende Fülle an Beweisen auf. Sie vermerkte, wie unsere Mutter Lippenstift auftrug, wenn sich der Kartoffelchipslieferant näherte, den sie mit Vornamen anredete und oft zur Benutzung unserer Toilette einlud. Unser Vater nannte die Damen in der Bankfiliale «Puppe» oder «Schätzchen», und ihre Reaktionen ließen ahnen, dass er sich einmal zu oft an ihnen schadlos gehalten hatte. Die Griechisch-Orthodoxe Kirche, die farbenfroh gekleideten Paare im Country Club, sogar unsere ältliche Collie-Hündin Duchess: Sie gehörten laut Gretchen alle dazu, und sie gewöhnte sich an, jeden Abend vor dem Schlafengehen ihre Schlafzimmertür mit aufgetürmten Möbeln zu verbarrikadieren.
Schließlich gelangte das Buch in die Hände unserer zehnjährigen Schwester Amy, die es als Schulbuch in ihrem imaginären Unterricht verwendete, den sie jeden Tag nach der Schule gab. Mit Perücke und hochhackigen Schuhen angetan, verbrachte sie ihre späten Nachmittage damit, vor einer Wandtafel zu stehen und ihre Lehrer nachzuahmen. «Tut mir sehr leid, Candice, aber ich werde dich durchfallen lassen müssen», sagte sie, indem sie sich an einen der leeren Klappstühle wandte, die vor ihr standen. «Das Problem ist ja nicht, dass du dich nicht anstrengst. Das Problem ist, dass du dumm bist. Sehr, sehr dumm. Na, Kinder, ist Candice etwa nicht dumm? Hässlich ist sie auch, stimmt’s? Gut, Candice, du kannst dich jetzt wieder hinsetzen und, um Himmels willen, aufhören zu flennen. Und nun, liebe Kinder, werde ich euch aus dem Buch vorlesen, welches wir diese Woche durchnehmen. Es ist eine Geschichte über eine Familie in Kalifornien und es heißt Familienbande.»
Wenn Amy das Buch gelesen hatte, dann hatte es bestimmt auch die acht Jahre alte Tiffany gesehen, die im selben Zimmer schlief, und unser Bruder Paul wahrscheinlich auch, der mit seinen zwei Jahren am Einband gelutscht haben mag, was noch gefährlicher war als die Lektüre. Dies musste eindeutig aufhören, bevor es außer Kontrolle geriet. Der Ausdruck «in Vorfreude bebendes Urschloch» wurde von Tag zu Tag beliebter und sogar unsere altgriechische Großmutter erschien mit verdächtigen Rändern unter den Augen am Frühstückstisch.
Gretchen nahm das Buch und versteckte es unter dem Teppich ihres Schlafzimmers, wo es von Lena, unserer Haushälterin, entdeckt wurde, welche es irgendwann unserer Mutter aushändigte.
«Ich werde dafür sorgen, dass es ein für allemal beseitigt wird», sagte sie und eilte über den Korridor, ihrem Zimmer entgegen.
«Bims mich», lachte sie, eine wahllos aufgeschlagene Seite vorlesend. «Klingt schon mal nicht schlecht.»
Wochen später fanden Gretchen und ich das Buch zwischen Matratze und Federung des Ehebetts, die Seiten mit Kaffeeringen und Zigarettenasche befleckt. Die Entdeckung schien Gretchens Verdächte sämtlich zu bestätigen. «Jetzt werden sie von einem Tag auf den andern über uns herfallen», warnte sie. «Sei auf der Hut, mein Freund, denn diesmal meinen sie’s ernst.» Sie hob zweifellos auf die Episode in Kapitel 8 ab, wo Mr. und Mrs. Rivers ihre Kinder einer Bande übelgelaunter Goldgräber mit üblem Atem und rauen, schwieligen Händen anbieten. Den Rivers-Kindern schien es Spaß zu machen, aber sie kannten es, wenn man es recht bedenkt, nicht anders.
Wir warteten. Ich hatte immer darauf Wert gelegt, meiner Mutter einen Gutenachtkuss zu geben, aber damit war es vorbei. Ihre Hand auf meiner Schulter verursachte bei mir Gänsehaut. Eines Nachmittags säumte sie mir eine Hose, als ich, vor ihr auf einem Küchenstuhl stehend, spürte, wie ihre Hand meinen Hintern streifte.
«Lass uns einfach gute Freunde sein», stammelte ich. «Nicht mehr, aber auch nicht weniger.»
Sie nahm die Stecknadel aus dem Mund und betrachtete mich eingehend, bevor sie seufzte: «Da hast du mich also all die Jahre hinters Licht geführt.»
Ich las das Buch ein weiteres Mal und versuchte mein früheres Vergnügen wieder wachwerden zu lassen, aber nun war es zu spät. Ich konnte die Formulierung «Er knuff seiner Tochter in die steinharten Brastwurzen» nicht mehr lesen, ohne daran zu denken, wie Gretchen sich in ihrem Zimmer verbarrikadierte.
Ich dachte, vielleicht werfe ich das Buch weg oder verbrenne es sogar; wie einen noch total guten Pullover, aus dem man herausgewachsen ist, schien es eine Schande, wenn man es zerstörte, wo die Welt doch voller Menschen war, die noch Nutzen daraus ziehen konnten. Dies eingedenk, trug ich das Buch zum Parkplatz vor dem Lebensmittelladen und warf es auf die Ladefläche eines blitzblanken neuen Kleinlasters. Besorgt und erleichtert zugleich, pfiff ich, als ich hinter dem Verkaufsautomaten des Lebensmittelladens Posten bezog und auf den Eigentümer des Kleinlasters wartete, bis dieser, einen Einkaufswagen voller Ware vor sich her schiebend, zurückkehrte. Er war ein drahtiger Mann mit modischen Koteletten und einem Arm halb in Gips. Als er seine Tüten auf der Ladefläche verstaute, verengten sich seine Augen beim Anblick des Buchs. Ich beobachtete ihn, wie er es an sich nahm und die ersten Seiten durchblätterte, bevor er den Kopf hob, um den Parkplatz abzusuchen. Er kämmte das Gebiet mit den Augen durch, als rechne er damit, eine Überwachungskamera oder, vorzugsweise, einen Kleinbus voll nackter Frauenzimmer zu entdecken, die ihre baren Brüste gegen die Fenster pressen und ihn – er solle doch kein Frosch sein – zum Mitmachen auffordern. Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche, nahm eine Zigarette und klopfte sie sachte gegen das Wagendach, bevor er sie anzündete. Dann ließ er das Buch in seine Gesäßtasche gleiten, stieg ein und fuhr davon.